31.3.05

Klarer Tag (Richard Dehmel)

Der Himmel leuchtet aus dem Meer;
ich geh und leuchte still wie er.
Und viele Menschen gehn wie ich,
sie leuchten alle still für sich.
Zuweilen scheint nur Licht zu gehn
und durch die Stille hin zu wehn.
Ein Lüftchen haucht den Strand entlang:
o wundervoller Müßiggang.

gefunden bei Laura

Sozusagen grundlos vergnügt (Mascha Kaléko)

Ich freu mich, daß am Himmel Wolken ziehen
Und daß es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
- Daß Amseln flöten und daß Immen summen,
Daß Mücken stechen und daß Brummer brummen.
Daß rote Luftballons ins Blaue steigen.
Daß Spatzen schwatzen. Und daß Fische schweigen.

Ich freu mich, daß der Mond am Himmel steht
Und daß die Sonne täglich neu aufgeht.
Daß Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, daß ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter;
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
- Weil er sich selber liebt - den Nächsten lieben.
Ich freue mich, daß ich mich an das Schöne
und an das Wunder nie gewöhne.
Daß alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freu mich, daß ich . . . Daß ich mich freu.

Der Frühling ist die schönste Zeit (Annette von Droste-Hülshoff)

Der Frühling ist die schönste Zeit!
Was kann wohl schöner sein?
Da grünt und blüht es weit und breit
Im goldnen Sonnenschein.
Am Berghang schmilzt der letzte Schnee,
Das Bächlein rauscht zu Tal,
Es grünt die Saat, es blinkt der See
Im Frühlingssonnenstrahl.
Die Lerchen singen überall,
Die Amsel schlägt im Wald!
Nun kommt die liebe Nachtigall
Und auch der Kuckuck bald.
Nun jauchzet alles weit und breit,
Da stimmen froh wir ein:
Der Frühling ist die schönste Zeit!
Was kann wohl schöner sein?


30.3.05

Eine Insel erfinden ... (Rose Ausländer)

Eine Insel erfinden,
allfarben
wie das Licht.
In seinem Schatten
willkommen heißen
die Erde.
Sie bitten, uns aufzunehmen
in Gärten,
wo wir wachsen dürfen,
brüderlich,
Mensch an Mensch.

29.3.05

Im Garten der Liebe (Ernst Ferstl)

Freudestrahlend
erforschten wir
heimlich,
Herz an Herz,
den Garten der Liebe.
Da überraschte uns
die Sonne
mitten im Gräsermeer –
und wir schmolzen dahin.

Was aus uns
geworden ist,
willst du wissen?
Na gut,
ich werde es dir flüstern:
ein einziger,
wunderbarer Wassertropfen,
in dem sich
alle Farben des Himmels
spiegelten.

Lausche stets auf die Welt ( (indianische Weisheit)

Lausche stets auf die Welt,
wie ein Kind, das über alles staunt.
Hege ein Gefühl der Liebe

und Bewunderung
für die gesamte Schöpfung,
vom winzigsten Grashalm

bis zum entferntesten Gestirn.
So wirst du die
verloren gegangene Harmonie
wieder finden.

Beziehungsweise (Jochen Mariss)

Ist es denn nicht möglich,
sich täglich nahe zu sein,
ohne alltäglich zu werden
voneinander entfernt zu sein,
ohne sich zu verlieren ...?

Beziehungsweise sich
maßlos zu lieben,
ohne sich lieblos zu maßregeln
einander gewähren zu lassen,
ohne die Gewähr zu verlieren ...?

Beziehungsweise
einander sicher zu sein,
ohne sich abhängig zu machen
einander Freiheit zu gewähren,
ohne sich unsicher zu werden ...?

Beziehungsweise ...

gelesen bei Deidre

Muttersprache (Christine Busta)

Nicht, was die Mutter sagt,
beruhigt und tröstet die Kinder.
Sie verstehen´s zunächst noch gar nicht.

Wie sie es sagt,
der Tonfall, der Rhythmus,
die Monotonie der Liebe
in den wechselnden Lauten
öffnet die Sinne dem Sinn der Worte,
bringt uns ein in die Muttersprache.

Ein Gleiches
geschieht auch
im Gedicht.

Gedichte (Christine Busta)

Leben,
in Bernstein geborgen,
begraben.

Narben,
berührbar,
unverletzlich.

Aufgezeichnete
Zeit im Werden.
Kreide oder Achat.

Die ganze Natur ist eine Melodie (J. W. von Goethe)

Die ganze Natur ist eine Melodie
in der eine tiefe Harmonie verborgen ist.
Die Natur schafft ewig neue Gestalten;
Was da ist, war noch nie,
was da war - kommt nicht wieder -
alles ist neu und dennoch immer das Alte.

28.3.05

Für Einen (Mascha Kaleko)

Die Andern sind das weite Meer.
Du aber bist der Hafen.
So glaube mir: kannst ruhig schlafen,
Ich steure immer wieder her.

Denn all die Stürme, die mich trafen,
Sie ließen meine Segel leer.
Die Andern sind das bunte Meer,
Du aber bist der Hafen.

Du bist der Leuchtturm. Letztes Ziel.
Kannst Liebster, ruhig schlafen.
Die Andern... das ist Wellenspiel,

Du aber bist der Hafen.

26.3.05

Die Amseln haben Sonne getrunken (Max Dauthendey)

Die Amseln haben Sonne getrunken,
Aus allen Gärten strahlen die Lieder,
In allen Herzen nisten die Amseln,
Und alle Herzen werden zu Gärten
Und blühen wieder.

Nun wachsen der Erde die großen Flügel
Und allen Träumen neues Gefieder,
Alle Menschen werden wie Vögel
Und bauen Nester im Blauen.

Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge
Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne,
In allen Seelen badet die Sonne,
Alle Wasser stehen in Flammen,
Frühling bringt Wasser und Feuer
Liebend zusammen.

25.3.05

Achte gut auf diesen Tag (Aus dem Sanskrit)

Achte gut auf diesen Tag,
denn er ist das Leben -
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf
liegt alle Wirklichkeit
und Wahrheit des Daseins,
die Wonne des Wachsens,
die Herrlichkeit der Kraft.

Denn das Gestern
ist nichts als ein Traum
und das Morgen nur eine Vision.
Das Heute jedoch - recht gelebt -
macht jedes Gestern
zu einem Traum voller Glück
und das Morgen
zu einer Vision voller Hoffnung.

Darum achte gut auf diesen Tag !

Der Abend ist mein Buch (Rainer Maria Rilke)

Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast;
ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.

Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.

Ostern (Joachim Ringelnatz)

Wenn die Schokolade keimt,
Wenn nach langem Druck bei Dichterlingen
"Glockenklingen" sich auf "Lenzesschwingen"
Endlich reimt,
Und der Osterhase hinten auch schon preßt,
Dann kommt bald das Osterfest.

Und wenn wirklich dann mit Glockenklingen
Ostern naht auf Lenzesschwingen, - - -
Dann mit jenen Dichterlingen
Und mit deren jugendlichen Bräuten
Draußen schwelgen mit berauschten Händen - - -
Ach, das denk ich mir entsetzlich,
Außerdem - - unter Umständen -
Ungesetzlich.

Aber morgens auf dem Frühstückstische
Fünf, sechs, sieben flaumweich gelbe, frische
Eier. Und dann ganz hineingekniet!
Ha! Da spürt man, wie die Frühlingswärme
Durch geheime Gänge und Gedärme
In die Zukunft zieht,
Und wie dankbar wir für solchen Segen
Sein müssen.

Ach, ich könnte alle Hennen küssen,
Die so langgezogene Kugeln legen.

24.3.05

Endlich bist du da. Wie gut.
Ich hab mich so sehr nach dir gesehnt.
Komm, kühl mein Herz. Es brennt.
Sei willkommen, sei umarmt,
immer wieder und immer wieder,
es ist Zeit...

Sappho (617/12 v.Chr. - um 570-560 v.Chr.)

Die Liebende (Rainer Maria Rilke)

Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?

Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir; so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,

rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.

Herzlich Willkommen

Hier will ich nach und nach die Gedichte, die ich seit über 20 Jahren gesammelt habe, einstellen.
Aber auch auf Rosinen im Kopf wird es weiter Gedichte geben.